42 (3. Teil) oder: Die Antworten auf fast alle Fragen: 36/37

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Welche Spur ich gelegt haben werde,
mich zu erinnern,
gibt die Therapeutin als Aufgabe:

Ich aber sagte und sprach,
dass ich den Sand feiner mahlte,
auf dass er schneller verwehte

und rascher durchs Uhrglas liefe,
als ich verschwunden sein werde
hinter dem Text,

der unleserlich gewesen sein wird
den Unkundigen –
solcher ich selbst.

Denn ich sage aber und spreche,
dass ich die Spur in eine Zukunft
lege, die schon immer vergangen war.

(231120)

 

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Erstmal weitermachen –
never change a running system –
mit dem Wegrennen zu mir.

Dahin, wo ich genügend nicht bin,
um ganz bei mir zu sein
und außer mir vor Innen.

Neuerdings male ich
(vom Tinten- zum Acrylfarbenkleckser):
Von der Hand aufs Blatt,

statt aus dem Mund
in den Stift,
vermeintlich direkt ins Herz.

Erstmal vor dem Nicht-Sein sein,
um zu ergründen, was daran
nicht sei.

(231125)

42 (3. Teil) oder: Die Antworten auf fast alle Fragen: 35

Was ich noch gewollt haben werde,
bevor die Spur, die ich gelegt,
verwehte.

Gibt es grammatische Formen
der voraussichtlichen Rückschau?
Ja, das Futur II.

So frage ich:
Wann wird es gewesen sein,
dass ich zum letzten Mal geküsst wurde?

Es könnte sein, dass die Antwort –
ein kalendarisches Datum –
jetzt schon in der Vergangenheit liegt.

(231026)

42 (3. Teil) oder: Die Antworten auf fast alle Fragen: 33

Eine Kirschblüte im gefällten Garten,
mullverbunden wunde Hände,
die Hammer und Sichel beiseite legen.

Ein Hügel, grüne Wiese mit fettem Kraut,
auf dem jetzt gefällte Kühe
atemlos dünstend grasten.

Mit einem Halm zwischen den Lippen
zitiere ich die Klassiker,
vom runden Kopf weht mir der Hut.

„Continuer de parler!”
„Sie fuhr’n zur See in einem Sieb“,
keine Odyssee, ohne dass ich schrieb

„und schrie und schreie“,
indes ich flüstere
und sing dies Lullabyebye.

(Oktober 2023)

42 (3. Teil) oder: Die Antworten auf fast alle Fragen: 31

Mein Herz ist eine Sanduhr,
zu eng sein Hals, dass sie abliefe.
So schlägt es die Stund’ immer weiter.

Die Therapeutin dreht sie um
am Anfang des Gesprächs, dann sickert der Sand
für 50 Minuten, er ist grau, wir sind blond.

„Wie sieht’s aus?“, fragt sie am Anfang,
und ich wage nicht zu sagen, dass sie gut
aussieht, weil bei ihr keine Aussicht ist

in den Schoß, seit sie es weiß,
auch nicht auf ihre Füße
und eh nicht meine Zukunft.

Wir graben uns durch die Stollen
des Bergwerks von Falun
in Stiefeln vor zum Verschütteten.

Mit einem leichten Atem
bläst sie das Geröll hinfort:
Ich müsse mich nicht beklagen.

(231004)

42 (3. Teil) oder: Die Antworten auf fast alle Fragen: 30

Den Tag der Vielfalt werd‘ ich heute feiern
und keine Einheit, nur die Einsamkeit,
der Utopie von damals in ihr’m Scheitern,
zu der wir war’n und sind noch nicht bereit.

Das, was (zurecht) zerbrochen und verging,
erlaubt nicht, dass der Sieger weitergeht
und macht sein kapitales Diebesding,
das hier und wieder auferstand und -steht.

Kann ich das Heimat nennen, deutsches Land,
wenn dreiunddreißig zählt auch dieses Jahr?
Verschlossen fühlt’s sich an und unverwandt,

wenn Heimstatt dort wie je nicht jenen gilt,
die anders sind, wie ich nicht eure Schar,
und sie dies Land so herzverloren killt.

(231003)

42 (3. Teil) oder: Die Antworten auf fast alle Fragen: 29

Notizen fürs Gedicht sind wie verhext:
Puzzle, das zu keinem andren passt.
Zu nah und dennoch viel zu weit komplext
der Text, die Nut, die nicht in Feder fasst.

Was steht dort, Kritzelhingeschrieb der Glosse?
Das Wort heißt „neben“, schräger noch als quer,
und landet schließlich in der Zettel-Gosse,
weil Eigenheimen fällt ihm jäh zu schwer.

So dicht’ ich besser doch in einem Rutsch,
den Räuschen gleich, dem Fließen fort aus Zeit,
nicht ganz so Sperm- und Sema, mehr auf Swutsch,

ganz kirre und verworren, stumm und wirr
zum Sturz aus großer Tiefe nun bereit,
mich zu entwinden aus Gedichts Geschirr.

(230925)

Sätze für ein Requiem (1986)

Mittwochschor der Heinrich-Heine-Schule Heikendorf, Ltg.: Heike Meyer; Orgel: Helga Hoppe; Komposition: Jörg Meyer

Mitschnitt der UA am 15.11.1986 in der Anker-Gottes-Kirche Laboe

  • 1. Präludium
  • 2. Requiem
  • 3. Dies irae
  • 4. Liber scriptus
  • 5. Sanctus
  • 6. Benedictus
  • 7. Agnus Dei
  • 8. In paradisum
  • 9. Libera me

42 (3. Teil) oder: Die Antworten auf fast alle Fragen: 26

Die gegenwärtige Wirklichkeit ließe sich als
diasporös beschreiben, was mit Löchern drin
und fern von Heimat, was unverbrüchlich Brüchiges,
Entgleitendes, unvollständig Defektes,

jedoch nicht defizitär:
Ein so Seiendes, wie es bleibt.
Ein umfängliches Paradoxon,
Enkeltrick der Erinnerung.

Und Sehnsucht, dies Gefühl
eines einverstandenen Mangels,
zufriedenen Ungenügens,

oft schon beschworener anderer Ort
im Dazwischen, Schweben statt
morgen hier, gestern dort.

(230904)

42 (3. Teil) oder: Die Antworten auf fast alle Fragen: 25

„Tell the bed not to lay / Like the open mouth of a grave / Not to stare up at me / Like a calf down on its knees“ (Madonna: „Don’t Tell Me“)

Nachts krähen die Kälber auf der Weide,
ängstigen sich. Im Sommer rutschen
die T-Shirts verschwitzt über den Nabel
des Leibs, viel zu lebendig fürs Grab.

Wenn nicht die Kälber, sind es die Möwen,
die schrei’n auf Schornstein und First.
Ihre Brut, grau noch im Federkleid,
längst ausgeflogen: Stummfühlungslaut.

Im Zweifel, ob’s nach Herbst schon, Winter
gar riecht, nach Stall, Weide oder Haus,
sitz’ ich auf mediterranen Balkonen,

Traumländereien, ausgedörrt unter
noch hoher Sonne, am Abend orange
und pupurpink glühend die Rädchen.

(230903)