davor, danach, wie geht’s jetzt blauen pillen
im glas mit zesten von der blutorange?
denn wie, woher will ich den freien willen,
am brustbein überm herz die nahkampfspange?
das uhrwerk pocht, im uhrglas schwillt der sand
entgegen schwerkraft rückwärts, also oben.
der strom fließt strudellos berganverwandt
und mind’res mehr scheint umso mehr verschoben.
die drugs sind meine droogs. denn gegen alles
ist – für also nichts – kein kraut gewachsen,
das rettet aus mir mich im fall des falles.
den freien fall beschleunigt mir mein schirm.
in die steine werd’ ich worte kratzen
und mit der klinge blut’gen strich auf stirn.
(240704)
[Erläuterung]
„blaue pillen“:
Im in vielerlei Hinsicht symbolisch-ikonischen Film „Matrix“ (USA / AUS 1999, Regie: Die Wachowskis) wird der Hacker Thomas Anderson aka Neo (Keanu Reeves) von Morpheus (Laurence Fishburne) aufgefordert, ein rote oder eine blaue Pille zu schlucken, um aus der Simulation der Matrix in die wirkliche Welt zu entkommen (rote Pille = freier Wille) oder weiter als „Sklave“ in der zwar virtuellen, aber „schöneren“ Welt zu verbleiben (blaue Pille) – (Faust-Narrativ). Die Promethazin-Pillen, die ich seit einiger Zeit als Antidepressivum einnehme, sind blau.
„blutorange“ / uhrwerk“:
Rekurs auf den Film „A Clockwork Orange“ (GB 1971, Regie: Stanley Kubrick – nach dem Roman von Anthony Burgess), der sich ebenfalls mit dem freien Willen auseinandersetzt. Ein jugendlicher Straftäter soll insofern geheilt werden, als sein deliquenter Wille durch Gehirnwäsche ausgelöscht wird. „Droogs“ nennt er in der von Burgess erfundenen und von russichen Ausdrücken inspirierten Kunstsprache Nadsat die Mitglieder seiner Jugend-Gang.
„am brustbein überm herz die nahkampfspange“:
Bezug zu meiner Operation am offenen Herzen im Juni 2011, bei der mir drei Bypässe gelegt wurden – eine Art Nahkampf mit mir selbst. Die „Nahkampfspange“ wurde Wehrmachtsangehörigen verliehen, die Nah- und Grabenkämpfe überlebt hatten, indem sie feindliche Soldaten ermordeten. Problematisches Bild, passte aber gut in den Reim.
„mit der klinge blut’gen strich auf stirn“ / „in die steine werd’ ich worte kratzen“:
Rekurs auf den Auftritt von Rainald Goetz 1983 beim Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt. Während der Lesung seines Textes „Subito“ schnitt Goetz sich mit einer Rasierklinge in die Stirnhaut. Zudem Rekurs auf Goetz’ Zitat aus „HIRN“: „Die Revolution ist die notwendige Tat. Wer sie nicht will, will das Elend des Volkes. Wenn das Volk leidet, weint der Stein. Man muss davon ausgehen, dass der Stein denkt. (Hervorhebung: jm) Die Welt ist nämlich aus Dingen gemacht. Denn nicht Tod, Leiden, Zukunft, Schuld sind wirklich, sondern Geschichte, Fortschritt, Jetzt, Glück, Leben. Eigentum aber ist Diebstahl. So gehört jede Revolution immer allen. Dies macht die Schönheit der revolutionäre Taten entwerfenden revolutionären Idee.“