Archiv der Kategorie: 42 (3. Teil)

42 (3. Teil) oder: Die Antworten auf fast alle Fragen: 42

Ich stand im Feld,
es blühte voll von Mohn
und Gräsern, Gräben,
tief bis an den Helm.

Die roten Linien,
die ich überschreiten muss,
sind ist aus dem Garn
der roten Fahne gesponnen.

Ich bin der Text, der Text ist ich.
Er sagt: Ich war,
ich bin, ich werde sein.

Denn die Trauer der Arbeit
bleibt zu verrichten,
selbst wenn nichts ist, wie es bleibt.



(„ … alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ – Karl Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1: 385)

(240424)

42 (3. Teil) oder: Die Antworten auf fast alle Fragen: 41

Aus all dem Gekraute dem Erdboden gleich,
aus Wurzeln hinauf. Hinaus schon zwei Zentimeter
ist Licht und grünt’s.

Du siehst über dir, sehr hoch
die roten Kirschen,
die nicht sind für dich.

Denn weil du dich überschätzt,
machst du dich ganz klein,
duckst dich dem Erdboden gleich.

Im Dunkel warst sichtbar.
Hier im Licht bist du verblendet,
erblindet vom blütigen Rost dort oben.

In all dem Krauchen, dem Erdboden gleich
aus Gräbern gekrochen, nicht erstanden,
ist nicht, wie es bleibt, das Schwarz.

Es ergraut, pigmentlos die Haare.
Ins Weiß, auch keine Farb’, keine Weisheit,
erbleichst wie ein Sommer von weit.

Taube fliegt grau. Dem Erdboden gleich
der Dachrinne ein Kadaver ihrer Art,
hoch droben sein Grab.

Zweige wirfst du wie Pfeile,
bis sie sich kreuzen
am Leichnam – dem Nest.

(240326)

42 (3. Teil) oder: Die Antworten auf fast alle Fragen: 40

Einst hatt’ ich Leidenschaft,
jetzt eher Leiden,
bleib‘ in der Haft,
die Freiheit zu vermeiden.

Wie ist ein Aufgang zu bewegen,
wie aus dem Untergang
dem Morgenrot entgegen
und seinem Überschwang?

Es fehl’n noch Untergänge,
die neuerlichem raten.
Es braucht erst noch mehr Zwänge
und Demut, läng’res Warten.

Es ist nicht, wie es bleibt,
wo Rückschritt geht voran
und mich zum Ende treibt,
wo Anfang mir begann.

(240129)

42 (3. Teil) oder: Die Antworten auf fast alle Fragen: 39

Das Aha der Atemlosigkeit,
indem sie war, wie wenn du
den Schlund tief in ein Glas

mit Sturm-Sprudel tauchst:
ein lebendiges Ertrinksticken
wie von Lachgas aus dem Weinglas.

Zu tief geschaut,
zu flach geatmet,
zu dunkles Licht.

Dyspnoe wirft dich auf die Bahre,
trägt dich in die Notaufnahme
mit großer Welle,

die – oh je, ähem, aha … –
dich spült an Krankenstrand,
wo du nicht Influencer bist

mit Reichweite, sondern dich
eine Influenza A
auf den engsten Punkt bringt,

ins Ei(n)zel(l)zimmer,
drei Tage Isolation,
die Krankenschwestern vermummt.

Aber du bist gerettet,
statt gerichtet – erneut –
und schaust vom Bett

durchs Fenster
hinaus aufs rege Leben
morgendlichen Berufsverkehrs.

(240118)

42 (3. Teil) oder: Die Antworten auf fast alle Fragen: 38

Das Leben (selbst das nur so genannte)
zu feiern, statt ob seiner Endlichkeit
zu verdammen, da

wäre ich (lebendig) dabei.
Mit der Einschränkung,
es müsste ekstatisch sein.

Wissend: das ist zu viel
verlangt, zu süchtig, zu
eigensinnig.

Dennoch: Der Schnee, der fiel,
taut jetzt wieder.
Die Nachmittagsdunkelheit

wird erhellt werden in
nur ein paar Wochen
und die zweigstarren Bäume

wieder belaubt.
Die graublauen Tauben werden
turtelgurren auf dem Balkon.

(231207)

42 (3. Teil) oder: Die Antworten auf fast alle Fragen: 36

Welche Spur ich gelegt haben werde,
mich zu erinnern,
gibt die Therapeutin als Aufgabe:

Ich aber sagte und sprach,
dass ich den Sand feiner mahlte,
auf dass er schneller verwehte

und rascher durchs Uhrglas liefe,
als ich verschwunden sein werde
hinter dem Text,

der unleserlich gewesen sein wird
den Unkundigen –
solcher ich selbst.

Denn ich sage aber und spreche,
dass ich die Spur in eine Zukunft
lege, die schon immer vergangen war.

(231120)

42 (3. Teil) oder: Die Antworten auf fast alle Fragen: 35

Was ich noch gewollt haben werde,
bevor die Spur, die ich gelegt,
verwehte.

Gibt es grammatische Formen
der voraussichtlichen Rückschau?
Ja, das Futur II.

So frage ich:
Wann wird es gewesen sein,
dass ich zum letzten Mal geküsst wurde?

Es könnte sein, dass die Antwort –
ein kalendarisches Datum –
jetzt schon in der Vergangenheit liegt.

(231026)

42 (3. Teil) oder: Die Antworten auf fast alle Fragen: 33

Eine Kirschblüte im gefällten Garten,
mullverbunden wunde Hände,
die Hammer und Sichel beiseite legen.

Ein Hügel, grüne Wiese mit fettem Kraut,
auf dem jetzt gefällte Kühe
atemlos dünstend grasten.

Mit einem Halm zwischen den Lippen
zitiere ich die Klassiker,
vom runden Kopf weht mir der Hut.

„Continuer de parler!”
„Sie fuhr’n zur See in einem Sieb“,
keine Odyssee, ohne dass ich schrieb

„und schrie und schreie“,
indes ich flüstere
und sing dies Lullabyebye.

(Oktober 2023)

42 (3. Teil) oder: Die Antworten auf fast alle Fragen: 31

Mein Herz ist eine Sanduhr,
zu eng sein Hals, dass sie abliefe.
So schlägt es die Stund’ immer weiter.

Die Therapeutin dreht sie um
am Anfang des Gesprächs, dann sickert der Sand
für 50 Minuten, er ist grau, wir sind blond.

„Wie sieht’s aus?“, fragt sie am Anfang,
und ich wage nicht zu sagen, dass sie gut
aussieht, weil bei ihr keine Aussicht ist

in den Schoß, seit sie es weiß,
auch nicht auf ihre Füße
und eh nicht meine Zukunft.

Wir graben uns durch die Stollen
des Bergwerks von Falun
in Stiefeln vor zum Verschütteten.

Mit einem leichten Atem
bläst sie das Geröll hinfort:
Ich müsse mich nicht beklagen.

(231004)

42 (3. Teil) oder: Die Antworten auf fast alle Fragen: 30

Den Tag der Vielfalt werd‘ ich heute feiern
und keine Einheit, nur die Einsamkeit,
der Utopie von damals in ihr’m Scheitern,
zu der wir war’n und sind noch nicht bereit.

Das, was (zurecht) zerbrochen und verging,
erlaubt nicht, dass der Sieger weitergeht
und macht sein kapitales Diebesding,
das hier und wieder auferstand und -steht.

Kann ich das Heimat nennen, deutsches Land,
wenn dreiunddreißig zählt auch dieses Jahr?
Verschlossen fühlt’s sich an und unverwandt,

wenn Heimstatt dort wie je nicht jenen gilt,
die anders sind, wie ich nicht eure Schar,
und sie dies Land so herzverloren killt.

(231003)